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Kartellrechtlich zulässige Kooperationen für Nachhaltigkeit und Tierwohl – die Europäische Kommission wird konkret


Wenn in letzter Zeit von Nachhaltigkeitsausnahmen im Kartellrecht die Rede war, ging es meist um eine neu geschaffene Regelung in § 2 Abs 1 des österreichischen Kartellgesetzes (siehe dazu auch die kürzlich veröffentlichten Leitlinien der BWB zu Nachhaltigkeitskooperationen). Eine – zumindest hierzulande – weniger Beachtung findende, für die Praxis aber nicht zu unterschätzende Regelung auf europäischer Ebene findet sich in Art 210a der Verordnung über eine gemeinsame Marktorganisation für landwirtschaftliche Erzeugnisse („GMO-VO“). Diese Bestimmung wird durch einen vor wenigen Tagen veröffentlichten Leitlinienentwurf maßgeblich konkretisiert.

Worum geht es?

Art 101 Abs 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verbietet Vereinbarungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen zwischen Unternehmen, die den Wettbewerb einschränken. Der im Dezember 2021 eingeführte Art 210a der GMO-VO schafft eine weitgehende Bereichsausnahme von Art 101 Abs 1 AEUV für gewisse, zwar wettbewerbsbeschränkende, aber bestimmten Nachhaltigkeitszielen dienende Vereinbarungen im Agrarsektor, zu dem auch die Tierindustrie zählt.

Doch nicht jede Vereinbarung, die Nachhaltigkeitsaspekte im Auge hat, ist von der Ausnahme erfasst. Zwar können Akteure auf allen Ebenen der Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebskette bis hin zum Lebensmitteleinzelhandel an der Vereinbarung beteiligt sein, Art 210a GMO-VO greift aber nur, wenn mindestens einer von ihnen landwirtschaftlicher Erzeuger ist. Eine Nachhaltigkeitsvereinbarung (nur) zwischen zwei Lebensmitteleinzelhändlerinnen könnte folglich nicht von der Bereichsausnahme profitieren.

Auch zum Inhalt der Vereinbarung gibt es Vorgaben: Sie muss die Produktion oder den Vertrieb landwirtschaftlicher Erzeugnisse (ausgenommen Fischerei- und Aquakulturerzeugnisse) betreffen, die im Anhang I zum AEUV angeführt sind. Bei einer Vereinbarung, die beispielsweise die nachhaltige Produktion von Tomaten zur Verarbeitung zu Pasta-Saucen zum Inhalt hat, würde die Kartellausnahme nur für jenen Part der Vereinbarung gelten, der sich auf Tomaten bezieht, da Saucen keine Produkte im Sinne des Anhangs I sind.

Von einer Nachhaltigkeitsvereinbarung nach Art 210a GMO-VO kann weiters nur dann ausgegangen werden, wenn mit ihr eines der förderfähigen Ziele verfolgt wird. Diese lassen sich grob in Umweltschutz, Verringerung des Einsatzes von Pestiziden sowie Tiergesundheit und Tierwohl einteilen. Andere Ziele, wie etwa bessere Arbeitsbedingungen oder eine fairere Entlohnung, sind hingegen nicht von Art 210a GMO-VO erfasst (anders angedeutet hingegen Bundeskartellamt, B2-90/21, Nachhaltigkeitsinitiative zur Förderung existenzsichernder Löhne im Bananensektor).

Welcher Standard?

Der Nachhaltigkeitsstandard, der zur Anwendung kommen soll, muss über jenen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts hinausgehen – je nachdem, welcher Standard im konkreten Fall einen höheren Nachhaltigkeitsmaßstab anlegt. Die bloße Einhaltung bestehender Standards reicht jedenfalls nicht aus. Aufgrund der Vielfältigkeit der infrage kommenden Themen- und Regelungskomplexe wird kein allgemeines Mindestmaß festgelegt, um das ein vereinbarter Nachhaltigkeitsstandard einen bereits vorgeschriebenen zu übersteigen hat. Das Ausmaß der Überschreitung ist daher einzelfallbezogen zu prüfen; es muss nicht messbar, aber zumindest einer nachvollziehbaren Beschreibung zugänglich sein. Klargestellt wurde durch den Leitlinienentwurf aber (übrigens ganz im Sinne unserer Überlegungen hierzu), dass eine Vereinbarung auch dann unter die Ausnahme fallen kann, wenn bisher kein verbindlicher Standard existiert hat. In diesem Fall muss mit der Vereinbarung das de-facto-Niveau der Nachhaltigkeit im Sinne der Ziele erhöht werden, womit gewissermaßen eine neue Nachhaltigkeitsanforderung gesetzt wird. Sobald jedoch gleichwertige oder ambitioniertere Normen auf EU- oder nationaler Ebene in Kraft treten, ist die Vereinbarung nicht mehr von der Ausnahme des Art 210a GMO-VO erfasst.

Bei unterschiedlich hohen Standards in einzelnen Mitgliedstaaten oder Regionen bilden die jeweils geltenden (höheren) Standards die maßgebliche Benchmark für die Zulässigkeit der Nachhaltigkeitskooperation. Gerade bei grenzüberschreitenden Sachverhalten könnte diese Vorgabe weitere Fragen aufwerfen (man denke etwa an Vorgaben für den Transport lebender Tiere, soweit diese nicht unionsrechtlich harmonisiert sind).

Keine weitergehende Beschränkung als zur Zielerreichung nötig

Nicht zuletzt ist die Ausnahme nur anwendbar, wenn die mit der Vereinbarung einhergehenden Wettbewerbsbeschränkungen für die Erreichung des höheren Nachhaltigkeitsstandards unerlässlich sind. Der Leitlinienentwurf gibt ausführlich Auskunft zum Konzept der Unerlässlichkeit und den einzelnen Prüfschritten, mit deren Hilfe festgestellt werden kann, ob eine Wettbewerbsbeschränkung unerlässlich ist. Sind alle Voraussetzungen des Art 210a GMO-VO erfüllt, ist die Vereinbarung vom Kartellverbot ausgenommen. Eine vorherige Genehmigung ist nicht erforderlich.

Kein Günstigkeitsprinzip für „Altvereinbarungen“

Eine beachtenswerte Klarstellung enthält der Leitlinienentwurf auch zum zeitlichen Anwendungsbereich von Art 210a GMO-VO: Nachhaltigkeitsvereinbarungen sind von diesem erst seit seinem Inkrafttreten am 8. Dezember 2021 umfasst. Vereinbarungen, die früher geschlossen wurden, profitieren ab diesem Zeitpunkt von der Kartellausnahme. Davor sind die zum jeweiligen Zeitpunkt geltenden Wettbewerbsvorschriften anwendbar, was freilich nicht zwangsläufig die Unzulässigkeit der Vereinbarung zur Folge hat.

Wie geht es weiter?

Die Europäische Kommission hat eine öffentliche Konsultation gestartet, in deren Rahmen sich interessierte Kreise bis 24. April 2023 zu dem Leitlinienentwurf äußern können (ähnlich lange, nämlich bis 26. April 2023, läuft das Konsultationsverfahren zu den überarbeiteten Horizontalleitlinien, die ein eigenes Kapitel zum Thema Nachhaltigkeitsvereinbarungen enthalten). Nach Auswertung der eingegangenen Stellungnahmen soll bis 8. Dezember 2023 eine endgültige Fassung der Leitlinien vorliegen. Sollten Sie Interesse an der Einbringung einer Stellungnahme haben, unterstützen wir dabei sehr gerne.

Disclaimer

Dieser Beitrag stellt lediglich eine allgemeine Information dar und ersetzt keine Rechtsberatung. Die Haslinger / Nagele Rechtsanwälte GmbH übernimmt keinerlei Haftung für Inhalt und Richtigkeit dieses Beitrages.

 

20. Januar 2023

 
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