Zum Hauptmenü Zum Inhalt

Offenlegung von Beweismitteln im Kartellschadenersatzverfahren


In einer aktuellen Entscheidung stärkt der EuGH Klägern in Kartellschadenersatzverfahren weiter den Rücken. Wettbewerbsbehörden können verpflichtet sein, Beweismittel herauszugeben, auch wenn das Verfahren vor der Wettbewerbsbehörde noch nicht abgeschlossen ist – allerdings nur, wenn die Offenlegung tatsächlich erforderlich und zweckmäßig ist und die Beweismittel nicht privilegiert sind.

Der Anlassfall

Im Januar 2012 leitete die tschechische Wettbewerbsbehörde ein Verwaltungsverfahren ein, das einen möglichen Missbrauch einer beherrschenden Stellung durch České dráhy, ein nationales Eisenbahnunternehmen, betraf. RegioJet, ein betroffener Mitbewerber, erhob daraufhin im Jahr 2015 eine Schadenersatzklage beim Stadtgericht Prag.

Im Jahr 2016 leitete die Europäische Kommission selbst ein förmliches Prüfverfahren ein, woraufhin die tschechische Wettbewerbsbehörde gemäß den Vorschriften über die Zusammenarbeit zwischen Europäischer Kommission und den nationalen Wettbewerbsbehörden ihr eigenes Verwaltungsverfahren aussetzte. RegioJet stellte daraufhin im Rahmen ihrer Schadenersatzklage, entsprechend nationalen Bestimmungen, einen Antrag auf Offenlegung von diversen Dokumenten durch aus dem wettbewerbsbehördlichen Verfahren.

Zur Klärung, ob die angeforderten Dokumente offengelegt werden dürfen, legte das tschechische Oberste Gericht dem EuGH mehrere Fragen zur der Auslegung der Kartellschadenersatzrichtlinie vor, welche dieser in einer rezenten Entscheidung (C-57/21, RegioJet) beantwortete.

Nicht alle Beweismittel sind gleich

Vorauszuschicken ist, dass das Kartellrecht nicht alle Beweismittel gleich behandelt. Um Anreize für Unternehmen zu schaffen, mit den Behörden zu kooperieren, ist etwa für Kronzeugenerklärungen und Vergleichsausführungen ein absoluter Offenlegungsschutz vorgesehen. Jene Beweismittel bilden die so genannte „schwarze Liste“.

Daneben gibt es Beweismittel, die zwar weder Kronzeugenerklärungen noch Vergleichsausführungen sind, jedoch von Unternehmen oder natürlichen Personen eigens für das wettbewerbsbehördliche Verfahren erstellt wurden. Ihre Offenlegung darf erst angeordnet werden, wenn die Wettbewerbsbehörde ihr Verfahren durch Erlass einer Entscheidung oder in anderer Weise beendet hat („graue Liste“).

Alle übrigen Beweismittel fallen unter eine weiße Liste. Für sie gilt keine per se-Privilegierung. Ihre Offenlegung kann nach Maßgabe einer Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgen (siehe dazu unten).

It Ain’t Over Till It’s Over

Die Vorlagefragen betrafen in erster Linie Beweismittel, die unter die so genannte graue Liste fielen. Hierzu hielt der EuGH fest, dass eine Unterbrechung keine Verfahrensbeendigung sei und Beweismittel der grauen Liste in einem solchen Stadium daher nicht herausgegeben werden dürften.

Es graut so grau …

Delikat ist die Frage, wann ein Dokument für das wettbewerbsbehördliche Verfahren erstellt wurde und daher einen gewissen Schutz vor einer Offenlegung erfährt.

Hierzu hält der EuGH fest, dass es nicht ausreicht, dass bestimmte Urkunden von Unternehmen im wettbewerbsbehördlichen Verfahren vorgelegt wurden, sofern sie nicht spezifisch für diese Zwecke erstellt wurden. Damit fallen Unterlagen, die bereits vor Verfahrensbeginn existierten, in der Regel in die weiße Liste und genießen keinen besonderen Schutz (mit Ausnahme der bereits angesprochenen Verhältnismäßigkeitsprüfung).

Den Mitgliedstaaten steht es im Übrigen frei, ein Verfahren zur Prüfung der Kategorisierung von Urkunden vorzusehen – dies allerdings mit der Maßgabe, dass andere Beteiligte und Dritte nicht bereits im Zuge der Prüfung Zugang zu den Dokumenten erhalten. Eine Einbeziehung Dritter in die Prüfung würde die Privilegierung ins Leere laufen lassen. Erst wenn das Ergebnis der Prüfung eine Offenlegung als rechtens ansieht, kann sie erfolgen.

Verhältnismäßigkeitsprüfung durch nationale Gerichte

Zurück zur weißen Liste: Während Beweismittel der weißen Liste keinen spezifischen Schutz genießen, hat ihre Herausgabe nicht schon auf Zuruf zu erfolgen. Vielmehr hat eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch das nationale Gericht zu erfolgen. Es ist zu beurteilen, ob eine Herausgabe tatsächlich erforderlich und zweckmäßig. Während dem „private enforcement“ und damit den Interessen von Klägern, Ersatz für behauptete Kartellschäden zu erlangen, ein hoher Stellenwert eingeräumt wird, sollen insbesondere so genannte „fishing expeditions“ durch Kläger vermieden werden. Gegen die Verhältnismäßigkeit einer Herausgabe könnten Parteien des wettbewerbsbehördlichen Verfahrens etwa die fehlende Relevanz der Herausgabe bestimmter Unterlagen für den antragstellenden Kläger einwenden. Ob solche Einwendungen erfolgreich sind, hängt von ihrer Überzeugungskraft ab. Wiederum ist eine Grauzone eröffnet, innerhalb derer sich neben den Parteien (zunächst) auch die nationalen Gerichte zurechtzufinden haben.

Ausblick

Insgesamt fügt sich die Entscheidung gut in die bisherige Rechtsprechung zum Umgang mit Beweismitteln im Rahmen von Kartellschadenersatzverfahren. Allerdings betrifft sie primär die graue und die weiße Liste, und überlässt auch hier (zwangsläufig) schwierige Abwägungen den nationalen Gerichten. Weiters bleibt abzuwarten, wie der EuGH in einem bereits anhängig gemachten Vorabentscheidungsverfahren zum Umgang mit Dokumenten der schwarzen Liste entscheiden wird.

Für die Beantwortung weiterer Fragen zu diesem Thema stehen Ihnen unsere Expert:innen Alexander Hiersche und Isabelle Krug aus dem Team Kartell- und Beihilfenrecht gerne zur Verfügung.

Disclaimer

Dieser Beitrag stellt lediglich eine allgemeine Information dar und ersetzt keine Rechtsberatung. Die Haslinger / Nagele Rechtsanwälte GmbH übernimmt keinerlei Haftung für Inhalt und Richtigkeit dieses Beitrages

 

13. April 2023

 
Zurück zur Übersicht
  • Referenz | Haslinger / Nagele, Logo: JUVE Awards
  • JUVE Top 20 Wirtschaftskanzlei-Oesterreich
  • Promoting the best. Women in Law Award